Das P2P-Auto

Eine neue Form des Car-Sharings nimmt Fahrt auf: Menschen bieten ihre eigenen Autos über das Netz zur Mitnutzung an.

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Von
  • William M. Bulkeley

Eine neue Form des Car-Sharings nimmt Fahrt auf: Menschen bieten ihre eigenen Autos über das Netz zur Mitnutzung an.

Einladend sieht er aus, der Dodge Nitro, wie er da in einer kleinen Gasse neben der Symphony Hall in Boston steht. Mein Komplize und ich ziehen unsere Kappen tiefer ins Gesicht und machen uns an den weißen SUV heran. Ich hole eine elektronische Karte aus der Tasche, führe sie einmal über die Windschutzscheibe, es macht Klick, die Türverriegelung hat sich gelöst. Wir huschen schnell in den Wagen, finden den gut versteckten Zündschlüssel und starten den Motor. Die Alarmanlage schlägt nicht an. Ich trete aufs Gas, und schon sind wir weg.

Die Eigentümerin des Wagens wird den Wagen nicht als gestohlen melden. Denn Natalia Widulinski vermietet ihn für acht Dollar die Stunde an wildfremde Menschen, wenn sie ihn gerade nicht braucht. „Ich habe nach einer Möglichkeit gesucht, die teuren Parkgebühren reinzubekommen“, sagt die eine Studentin. Denn sie verdient mit ihrem Job nur 300 Dollar im Monat - allein der Parkplatz kostet sie 175 Dollar.

Natalia Widulinski und ich sind beide Mitglieder bei RelayRides, einem der neuen Car-Sharing-Dienste, die Investoren aus dem Silicon Valley als Teil des neuen Markts für „Collaborative Consumption“ ausgemacht haben. Die Idee dahinter: persönliche Dinge miteinander teilen, um Geld zu sparen und den Zusammenhalt der Nachbarschaft zu fördern. Das senkt gleichzeitig den ökologischen Fußabdruck des Konsums.

Wagen sucht Mitnutzer: Angebot des Dodge Nitro von Natalia Widulinski bei RelayRides.

(Bild: RelayRides)

Wer bei RelayRides als Anbieter mitmacht, bekommt eine automatische Türverriegelung eingebaut, die mit einer RFID-Karte drahtlos aktiviert werden kann. Das Start-up behält 35 Prozent der Mietgebühren als Provision ein, wickelt dafür aber alle Zahlungen und Versicherungsangelegenheiten ab.

Derartige Peer-to-Peer-Dienste gibt es unter anderem schon bei Immobilien: Loose Cubes vermittelt über das Netz die Mitnutzung von Ferienhäusern oder Büroräumen, AirBnB Schlafzimmer in Privatwohnungen. Was dort gut funktioniert, wird nun auch für das Auto getestet. RelayRides, vor zwei Jahren in Boston und San Francisco gestartet, hat derzeit 200 PKWs zur Mitnutzung im Angebot. Ein bescheidener Anfang: In den USA gibt es insgesamt 250 Millionen PKWs.

Industrieanalysten sehen für das P2P-Auto dennoch ein Riesenpotenzial. Die Gartner Group schätzt, dass in den nächsten vier Jahren zehn Prozent der amerikanischen Stadtbevölkerung das eigene Auto zugunsten eines mitgenutzten aufgeben wird.

Wer nur einige Stunden fahren will, spart gegenüber den Tagessätzen herkömmlicher Autovermietungen Geld. Gegenüber diesen, aber auch herkömmlichen Car-Sharing-Diensten hat die P2P-Variante einen großen Vorteil: Die Betreiber müssen keine eigenen Autoflotten vorhalten. Nachteil: Nicht jeder ist mit den Autos zufrieden, die er von seinen Mitbürgern leiht. In den Onlineforum von RelayRides wird schon mal über verdreckte Wagen oder Dinge, die nicht mehr richtig funktionieren, gemeckert.

Verkehrsexperten glauben, dass das P2P-Auto die chronische Parkplatznot in vielen Städten lindern könnte, die nicht zuletzt durch ungenutzt herumstehende Wagen entsteht. Dass auch der Autohersteller General Motors (GM) sich für das Konzept erwärmen kann, mag überraschen – schließlich fördert Car Sharing nicht unbedingt den Absatz. Im Oktober stieg GM mit 13 Millionen Dollar bei RelayRides ein. Die Firma will mit dem Geld nun acht weitere Städte als Standorte erschließen. GM wird außerdem eine Variante seines OnStar-Kommunikationssystems zum Entriegeln und Starten des Wagens bereitstellen. Der Autokonzern begründet seine Beteiligung damit, Car Sharing zu „einem vorteilhaften Geschäftsmodell“ machen zu wollen.

Und auch die US-Regierung ist hellhörig geworden. Die Federal Highway Administration hat im Dezember 1,7 Millionen Dollar Fördergelder für Start-up Getaround zugesagt, um einen P2P-Auto-Dienst in Portland, Oregon aufzubauen – inklusive wissenschaftlicher Auswertung. Getaround ist bereits in San Francisco und San Diego präsent. Seine Kunden können die mitnutzbaren Autos per iPhone-App öffnen.

RelayRides, Getaround und die anderen Firmen im neuen P2P-Auto-Geschäft legen Wert darauf, dass die Kunden ordentliche Fahrer sind, die sich im Verkehr möglichst nichts haben zu schulden kommen lassen. Die Autoanbieter wiederum müssen Sicherheitsprüfplaketten des jeweiligen Bundesstaats vorweisen. Gibt ein Bundesstaat solche Plaketten nicht aus, nehmen die Firmen die Inspektion selbst vor. Der Versicherungsschutz für die Kunden sieht eine Selbstbeteiligung von 500 Dollar vor. Mautgebühren und Strafmandate müssen diese natürlich selbst zahlen. Bei Getaround sind die Spritkosten im Preis inbegriffen, während RelayRides das Benzin extra berechnet.

Die Bundesstaaten Kalifornien und Oregon haben sogar die gesetzlichen Bestimmungen für Mietwagen geändert. Car-Sharing-Nutzer sind nun, anders als Mietwagen-Nutzer, von bestimmten Steuern sowie Gebühren, die manche Städte erheben, ausgenommen.

Nicht alle sind jedoch begeistert vom P2P-Auto. Rick Hutchinson von City CarShare, das seit elf Jahren in San Francisco operiert, bezweifelt, dass das mitgenutzte Auto den Verkehr reduzieren wird. City CarShare – eine Nonprofit-Firma – wirbt nämlich zusätzlich auch dafür, mit dem Fahrrad oder dem öffentlichen Nahverkehr zu fahren. Andere Skeptiker glauben, dass die Idee nur in Großstädten funktioniert. In den Vorstädten oder auf dem Land sind die Entfernungen zum nächsten Wagen meist zu groß. Und für die älteren Generationen ist ein eigenes Auto aus dem Leben nicht wegzudenken.

Peter Campisano, ein 71-jähriger Ökonom aus Boston, hat jedoch nachgerechnet. Ein Jahr, nachdem er aus der Vorstadt in die Innenstadt gezogen war, gab er seinen Cadillac auf und wurde Kunde von ZipCar: „Das ist für mich die perfekte Lösung meiner Fahrbedürfnisse.“ (nbo)