Tauziehen um Spinnenfäden

Ein Biochemiker erfindet ein Verfahren zur großtechnischen Herstellung von Spinnenseide und weckt Begehrlichkeiten seiner Universität.

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Von
  • Veronika Szentpetery

Ein Biochemiker erfindet ein Verfahren zur großtechnischen Herstellung von Spinnenseide und weckt Begehrlichkeiten seiner Universität.

Der Stoff, aus dem die Träume der AMSilk-Gesellschafter sind, ist Spinnenseide. Und das aus gutem Grund. Als Werkstoff mit außergewöhnlichen Eigenschaften beschäftigt das hauchfeine Material die Fantasie von Wissenschaftlern schon lange. Obwohl "nur" aus Proteinen bestehend, ist der Naturstoff zugfester als Stahl, zugleich elastischer als Gummi und stabiler als Nylon und Kevlar. Aber für die industrielle Produktion fehlte lange eine geeignete Synthesemethode.

Erst 2004 stellte Thomas Scheibel von der Technischen Universität München (TUM) ein biotechnisches Verfahren vor, mit dem sich der Naturstoff kilogrammweise – und damit in einer für industrielle Produkte relevanten Menge – herstellen lässt. Von der starken Resonanz aus der Industrie beflügelt, beschloss Scheibel im April 2005, mit der Spinnenseiden-Technologie ein Unternehmen aus der TUM auszugründen. Doch das zog sich. Allein zwei Jahre vergingen bei enervierendem Hin und Her mit der TUM um Patente und Beteiligungsfragen. Am Ende zeigten sich jedoch alle Akteure zufrieden mit dem Ergebnis, das zum Präzedenzfall werden könnte: Die TUM sicherte sich das Dreifache der maximal üblichen Universitätsbeteiligung an einem ausgegründeten Unternehmen; dafür musste die AMSilk GmbH keine separate Ablöse für die Patente zahlen.

Eigentlich beginnt die Geschichte von AMSilk im Juni 2001, als der Biochemiker Scheibel von der Universität Chicago ein Stellenangebot der TUM mit dem Ziel annimmt, die Herstellung von Spinnenseide großtechnisch nutzbar zu machen. Neben seinen herausragenden physikalischen Eigenschaften ist der Naturstoff nämlich auch körperverträglich, eignet sich also gut für den medizinischen Einsatz.

Im Mai 2004 ist es so weit: Scheibels Versuche, Kolibakterien per eingeschleusten Spinnengenen naturgetreue Proteine produzieren zu lassen, haben Erfolg und finden ein starkes Echo: "Seitdem der erste Artikel in der Zeitung erschienen ist, hagelt es auch konkrete Anfragen aus der Industrie", schreibt Scheibel im Dezember 2004 in sein Gründertagebuch. "Anscheinend haben wir nicht nur eine einzigartige Technologie entwickelt, sondern damit auch eine Marktlücke getroffen." Im Sommer 2005 holt er den jungen Kollegen Lin Römer für die operativen Aufgaben ins Boot. Eine Marktanalyse identifiziert Textilien, Kosmetik sowie Pharma- und Medizintechnik als vielversprechende Einsatzgebiete.

Die Wissenschaftler haben nämlich auch an die Weiterverarbeitung ihres Rohstoffs gedacht und arbeiten daran, ihn zu Fäden zu spinnen sowie Stoffe und Folien herzustellen. Der Vorteil: Nach der Isolierung des Seidenproteins aus den Fermentationstanks lässt sich die künstliche Spinnenseide als gefriergetrocknetes Pulver aufbewahren. Das kann man bei Bedarf in speziellen Chemikalien lösen und soll – so AMSilks Geschäftsidee – entweder in Zusammenarbeit mit den Kunden oder durch eigene neue Methoden zu technischen Polymeren verarbeitet werden.

Der Businessplan, mit dem das Duo beim bundesweiten Science4Life-Businessplan-Wettbewerb im Juli 2006 den zweiten Platz holt, überzeugt den Science4Life-Gründercoach und Investmentberater Axel Leimer so gründlich, dass er drei Monate später selbst beim AMSilk-Team einsteigt. Im Herbst 2006 beginnen die drei Gründer in spe, mit der TUM über die Modalitäten der Ausgründung zu verhandeln. Sie wollen die von der Universität angemeldeten Patente nicht in Lizenz nutzen, sondern mithilfe von eingeworbenen Investorengeldern erwerben.

Auch die Universität will keine übliche Lizenzlösung: "Es gibt eine Fülle von Patentanmeldungen, und die Technologie hat viele Anwendungsmöglichkeiten", sagt Alexandros Papaderos, Leiter des Patent- und Lizenzbüros der TUM, später. Die TUM sieht keinen Sinn darin, für so viele Felder einzelne Lizenzverträge aufzusetzen, zumal noch gar nicht alle Anwendungen bekannt sind.

Die Uni hält die Technologie für so aussichtsreich, dass sie als Gegenwert für die Patentrechte als Gesellschafterin bei dem zu gründenden Unternehmen einsteigen will. Ihre Vorstellung vom Beteiligungsumfang übersteigt jedoch die Pläne der AMSilk-Gründer zunächst bei Weitem. In Deutschland sind drei bis zehn Prozent Beteiligung durch Hochschulen üblich – und auch bei US-Universitäten wie Stanford und dem Massachusetts Institute of Technology bewegen sie sich im einstelligen Bereich.

"Wir wollten uns nicht mit dem zufrieden geben, was in Deutschland üblich ist", sagt TUM-Patentwächter Papaderos. Die Technologie sei sehr vielversprechend, das müsse dotiert werden. Bei den Patenten – insgesamt neun mit knapp 60 nationalen und internationalen Anmeldungen – seien außerdem Kosten entstanden, die einen Gegenwert haben müssten.

Fast zwei Jahre lang treffen sich die Partner immer wieder am Verhandlungstisch. Parallel dazu läuft die Suche nach potenziellen Investoren auf Hochtouren. Das AMSilk-Team nutzt die Zeit, um in Scheibels "Fiberlab" – das nach seiner Ernennung zum Professor im November 2007 an die Universität Bayreuth gezogen ist – die Verarbeitungstechnologien weiterzuentwickeln: Das Biopolymer lässt sich schäumen, zu luft- und wasserdampf-durchlässigen Folien und Membranen gießen, zu Vliesen verarbeiten und zu winzigen Kapseln für Wirkstoffe formen. Ende Oktober 2008 kommt es schließlich zur Vertragsunterzeichnung: AMSilk wird mit Thomas Scheibel, Lin Römer, Axel Leimer und der Universität als Gründungsgesellschafter ins Handelsregister eingetragen. Die TUM überträgt für satte 26,7 Prozent der Anteile sämtliche Patente an die GmbH.

Während sich die Biotechnologie-Branche fragt, ob die hohe Beteiligung der TUM Schule machen wird, blickt der Erfinder Scheibel versöhnlich zurück: "Wir wurden oft gefragt, warum haut ihr nicht auf den Tisch. Aber der Erfolg gibt uns Recht. Die Technologie hat einen Wert, und den haben wir bekommen." Denn neben der TUM beteiligen sich nun zwei Wagniskapital-Gesellschaften der MIG und die AT Newtec mit insgesamt fünf Millionen Euro an der Neugründung und stellen für eine zweite Finanzierungsrunde weitere fünf Millionen Euro in Aussicht.

Beides zusammen reicht für etwa fünf Jahre, kalkuliert Leimer. Bis dahin könnten auch die ersten Produkte auf dem Markt sein. Welche das sein werden, darf der Geschäftsführer nicht verraten, nur dass sie für Kunden aus der Textil- und Automobilbranche arbeiten. Derzeit richtet sich AMSilk, deren Belegschaft in diesem Jahr auf zehn Mitarbeiter anwachsen soll, in ihren neuen Entwicklungslaboren in Martinsried bei München ein. Für einen Nachschub an Produktideen ist bereits gesorgt: Thomas Scheibel entwickelt einen bionischen Apparat, der den natürlichen Spinnprozess nachbilden soll. Damit soll auch das eigentliche Know-how der Spinnen, die Herstellung von langen, robusten Fäden, endlich im großen Maßstab gelingen. (bsc)