Ein Jahr nach Atom-Ausstieg: Weiter Streit über Stromversorgung

Seit einem Jahr sind alle deutschen AKW vom Netz. Die einen meinen, es sei ein "historischer Fehler", die anderen, Schreckensszenarien seien nicht eingetreten.

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Der Atommeiler Isar 2, man erkannt Dampf über dem riesigen Kühlturm.

Atomkraftwerk Isar 2 nahe Landshut, als es noch im Betrieb war.

(Bild: Preussenelektra)

Lesezeit: 5 Min.
Inhaltsverzeichnis

Am 15. April 2023 wurden die letzten drei verbliebenen Atomkraftwerke in Deutschland abgeschaltet. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann sieht den Atomausstieg als historischen Fehler, wie er den Publikationen der Funke Mediengruppe sagte. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) verweist hingegen in denselben Medien darauf, dass seitdem sowohl die Strompreise als auch die CO₂-Emissionen gesunken seien. Ein Befund, den vergangene Woche die Umweltschutzorganisation Greenpeace mit einer Studie stützte.

Das Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE hat ermittelt, dass in Deutschland seit dem 15. April 2023 mit 269 TWh Strom im Vergleich zu den zwölf Monaten vorher 32 mehr mit Erneuerbaren Energien erzeugt wurden. Der Anteil der fossilen Energien ging von 210 TWh auf 156 TWh zurück, einem Exportüberschuss von 21 TWh steht ein Importüberschuss von 22 TWh gegenüber. Die Atomkraftwerke machten 30 TWh aus. Gleichzeitig ging die Last – also der eigentliche Stromverbrauch und Netzverluste – von 468 TWh auf 459 TWh zurück.

Linnemann sieht "alle Warnungen von Experten" als eingetreten an. Deutschland sei abhängiger von Stromimporten geworden, die Wirtschaft ächze unter hohen Energiepreisen, heißt es in Funke-Zeitung Berliner Morgenpost. Kein anderes Land der Welt folge dem "ideologischen Kurs dieser Bundesregierung". Stattdessen würden überall neue Atomkraftwerke gebaut, wird Linnemann zitiert. Die CDU wolle den historischen Fehler rückgängig machen, sobald sie an der Regierung sei.

Möglicherweise bezieht sich Linnemann auf eine Erklärung, die 30 Staaten auf einem Atomenergie-Gipfel abgegeben haben. Sie wollen "das Potenzial der Nuklearenergie voll ausschöpfen", hieß es im März aus Brüssel. Nicht nur die deutsche Bundesregierung sieht solche Pläne skeptisch, auch Länder wie Österreich und Dänemark lehnen Atomkraft ab. In der Tat werden zurzeit auch in Europa neue Atomkraftwerke gebaut. Die jüngsten Beispiele im französischen Flamanville, im britischen Hinkley Point oder im finnischen Olkiluoto zeichneten sich zuletzt durch massiv verzögerte Zeitpläne und höhere Kosten aus.

Argumente, die vorige Woche im Bundestag bereits ausgetauscht wurden. Neben günstigeren Strompreisen und einer höheren Wettbewerbsfähigkeit führte die CDU/CSU-Fraktion dabei eine bessere Versorgungssicherheit ins Feld, da die Erneuerbaren Energien wie Photovoltaik und Windkraft nicht gleichmäßig Strom lieferten. Zudem wurden im März Kohlekraftwerke abgeschaltet, die während der Energiekrise eingesprungen sind, die durch den russischen Überfall auf die Ukraine und deren Folgen ausgelöst wurden.

Bruno Burger, Energieexperte von Fraunhofer ISE, erläuterte gegenüber der Tagesschau, die gesicherte Kraftwerksleistung sei durch die Abschaltung der Kohlekraftwerke zurückgegangen. Er sehe aber kein Defizit, da nun zunehmend auch große Batteriespeicher ins Netz gingen, die parallel zu den Pumpspeichern einspringen könnten. Die Stromversorgung hänge nicht an einzelnen Kraftwerken, sondern werde über die Mechanismen des Strommarktes und die bereits vorhandenen Reservekraftwerke sichergestellt.

Die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) sah ebenfalls in den Funke-Medien ein Jahr nach dem deutschen Atomausstieg weiterhin hohe Strompreise. An der Börse seien die deutschen Strompreise noch immer doppelt so hoch wie 2019, sagte DIHK-Präsident Peter Adrian. Allerdings seien die Preise im Verlauf des vergangenen Jahres gefallen. Zusammen mit Steuern, Netzentgelten und Umlagen seien die Kosten zum Teil sogar viermal so hoch wie in anderen Ländern.

Viele Unternehmen hätten von kleineren und größeren Stromausfällen berichtet, heißt es weiter von der DIHK. Daher dürften bestehende Kraftwerke erst abgeschaltet werden, wenn es neben wetterabhängigen Stromquellen ausreichend Energiespeicher und Wasserstoffkraftwerke gebe. Dem ZDF sagte Burger von Fraunhofer ISE, die installierte Kraftwerksleistung der steuerbaren Kraftwerke – ohne Solar und Wind – liege bei 90 GW. Die maximale Last habe bei 74 GW gelegen. "Es war also immer ausreichend Kraftwerkskapazität vorhanden."

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Nach Angaben des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft lag der durchschnittliche Strompreis für die Industrie bei Neuabschlüssen Anfang 2024 bei 17,65 Cent pro Kilowattstunde, 2019 waren es demnach 18,43 Cent. Etwa ein Drittel davon entfiel damals noch auf die EEG-Umlage, die inzwischen nicht mehr fällig wird. In der Energiekrise nach dem russischen Angriff auf die Ukraine 2020 war der Preis auf 43,20 Cent hochgeschnellt.

Im Gegensatz zum CDU-Generalsekretär sieht der Bundeswirtschaftsminister nicht alle Schreckensszenarien eingetreten. In einem Posting auf Instagram betonte sein Ministerium, die Strompreise im Großhandel seien nach Höchstwerten wieder zurückgegangen und die Versorgungssicherheit bleibe auf hohem Niveau gewährleistet. Den Funke-Medien sagte Habeck, Deutschland habe ausreichend eigene Kapazitäten, den Strombedarf im Inland zu decken. Zwei Prozent des Bruttostromverbrauchs seien im vergangenen Jahr mit Importen gedeckt worden, davon sei aber nur rund ein Viertel Atomstrom aus Frankreich gewesen.

(anw)